Kündigungsschutz während Krankheit
Das Schweizerische Bundesgericht hat unlängst einen Entscheid gefällt (BGer 1C_595/2023, vom 27. März 2024), der aufhorchen liess und beachtliche Konsequenzen für die Praxis haben dürfte.
Der Entscheid betraf die Kündigung eines Berufsoffiziers durch die Schweizerische Armee. Dieses Arbeitsverhältnis unterstand als solches zwar dem öffentlichen Recht, für dessen Auslegung sind jedoch – in gewissem Umfange - privatrechtliche Bestimmungen anwendbar, insbesondere die Bestimmung von Art. 336c Abs. 1 lit. b des Schweizerischen Obligationenrechts (OR) (bzw. Teile davon) betreffend den Kündigungsschutz des Arbeitnehmers während Krankheit. Die Ausführungen des Bundesgerichts zur vorgenannten Bestimmung des OR dürften damit sehr wohl praktische Auswirkungen für dem Privatrecht unterstehenden Arbeitsverhältnisse haben.
Art. 336c Abs. 1 lit. b OR sieht vor, dass einem Arbeitnehmer/einer Arbeitnehmerin, welche/r infolge Krankheit oder Unfall (ohne sein/Ihr Verschulden) an der Arbeitsleistung ganz oder teilweise verhindert ist, während einer bestimmten Dauer (nach Ablauf der Probezeit) nicht (ordentlich) gekündigt werden kann. Die Dauer dieser sog. Sperrfrist richtet sich dabei nach der Anzahl Dienstjahre (und beträgt im ersten Dienstjahr 30 Tage, ab dem zweiten bis und mit dem fünften Dienstjahr 90 Tage und ab dem sechsten Dienstjahr 180 Tage; im Rahmen des anwendbaren öffentlichen Rechts betrug die Sperrfrist bei Krankheit in dem durch das Bundesgericht zu beurteilenden Fall sogar 2 Jahre). Eine während einer solchen Sperrfrist ausgesprochene Kündigung ist nichtig, d.h. sie zeigt überhaupt keine Rechtswirkung (und braucht durch den Arbeitnehmer folglich auch nicht angefochten zu werden). Der Arbeitgeber kann erst nach Ablauf der gesetzlichen Sperrfrist eine (ordentliche) Kündigung rechtswirksam aussprechen. (Vorbehalten bleibt eine fristlose Kündigung aus wichtigem Grund nach Art. 337 OR, welche jedoch nur in Ausnahmefällen zulässig ist.)
In dem durch das Bundesgericht zu beurteilenden Fall war der Arbeitnehmer im Zeitpunkt, in dem ihm gekündigt wurde, zu 100% krankgeschrieben. Die medizinischen Berichte hielten dabei fest, dass der Arbeitnehmer an Angst- und Depressionsstörungen litt, welche ‘durch die problematische Situation am Arbeitsplatz ausgelöst worden sei’. Es wurde ihm ein hohes Risiko eines depressiven Rückfalls attestiert, wenn er wieder mit seinem früheren Arbeitsplatz konfrontiert würde. Der Arbeitnehmer hatte zudem selbst zugegeben, aufgrund seiner Situation bei seinem Arbeitgeber an einer depressiven Stimmung zu leiden. Gemäss dem massgeblichen Sachverhalt bestand somit eine auf den Arbeitsplatz beschränkte Arbeitsunfähigkeit (sog. arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit). Ein Mobbing gegen den Arbeitnehmer lag dabei (gemäss dem Sachverhalt, von dem das Bundesgericht ausging bzw. ausgehen durfte) nicht vor.
Zum Normzweck von Art. 336c OR führte das Bundesgericht aus, dass einem erkrankten Arbeitnehmer der zeitliche Kündigungsschutz nicht deswegen gewährt werde, weil sein Zustand ihn daran hindern würde, eine neue Stelle zu suchen, sondern weil eine Anstellung bei einem neuen Arbeitgeber nach Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist infolge der Ungewissheit über die Dauer und den Grad der Arbeitsunfähigkeit höchst unwahrscheinlich erscheine. Die Schutzbestimmung sei folglich nicht anwendbar, wenn eine gesundheitliche Beeinträchtigung derart unbedeutend ist, dass sie die Besetzung eines neuen Arbeitsplatzes in keiner Weise verhindert, was auch bei einer arbeitsbezogenen Arbeitsunfähigkeit gelte. Das Bundesgericht schützte daher die (ordentliche) Kündigung des betroffenen Arbeitnehmers während seiner arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit (unter Verwerfung der weiteren gegen die Kündigung geltend gemachter Gründe inhaltlicher Natur).
Die Frage, ob eine ordentliche Kündigung während einer arbeitsbezogenen Arbeitsunfähigkeit ausgesprochen werden kann, ist in der Lehre umstritten. Die Praxis der kantonalen Gerichte ist bzw. war unterschiedlich. Während vor allem kantonale Gerichte in der Deutschschweiz der Theorie der Nicht-Anwendung der Sperrfrist bei arbeitsplatzbezogener Krankheit gefolgt sind, fand die Theorie in der Westschweiz weniger Anklang.
Nachdem das Bundesgericht im Jahre 2013 die Theorie der Nicht-Anwendung der Sperrfrist bei arbeitsplatzbezogener Arbeitsunfähigkeit noch verworfen hatte, hatte es sie in einem späteren Urteil im Jahre 2016 implizit angewandt. Im nunmehr ergangenen Entscheid hat es sie ausdrücklich anerkannt.
In typischen Fällen arbeitsbezogener Arbeitsunfähigkeit ist der Arbeitnehmer nur an seiner konkreten Arbeit an seiner (bestehenden) Stelle verhindert, im Übrigen jedoch normal einsatzfähig und auch in seiner privaten Lebensgestaltung (in Bezug auf seine Freizeit, Hobbies etc.) kaum eingeschränkt. Daraus kann in der Tat gefolgt werden, dass der Schutzgedanke von Art. 336c OR in dieser Konstellation nicht greifen soll, da ein neuer Arbeitgeber aufgrund der -eine neue Stelle nicht tangierende – Arbeitsverhinderung keinen Anlass habe, den betroffenen Arbeitnehmer deswegen nicht anzustellen. In der Praxis dürfte die Sachlage jedoch oft komplexer sein. Eine infolge einer besonders schwierigen Situation am Arbeitsplatz entstandenen Erkrankung kann ein Ausmass annehmen, dass sie sich auch in Bezug auf andere Arbeitsstellen (erga omnes) äussert. Auch dürfte die Eruierung von Ursachen und Auswirkungen von Krankheiten (insb. psychischer Natur) oft schwierig sein. Es können sich daher heikle Abgrenzungs- und Beweisfragen stellen.
Grundsätzlich sind die Arbeitnehmer beweispflichtig für eine von ihnen geltend gemachte Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit. Dennoch wird davon ausgegangen, dass der Arbeitgeber die Beweislast dafür trägt, dass eine durch den Arbeitnehmer nachgewiesene Arbeitsunfähigkeit auf den Arbeitsplatz reduziert ist, wenn er sich auf den fehlenden zeitlichen Kündigungsschutz von Art. 336c OR berufen will. Insbesondere nach dem nunmehr ergangenen Bundesgerichtsurteil werden Arbeitnehmer, die aufgrund von zwischenmenschlichem Stress oder Konflikten ihre Arbeit nicht verrichten können, versuchen, eine ärztliche Bescheinigung einer allgemeinen (erga omnes) Arbeitsunfähigkeit zu erhalten. Für Arbeitgeber dürfte es in der Praxis daher sehr schwierig sein, eine auf den Arbeitsplatz bezogene Arbeitsunfähigkeit genügend nachweisen zu können. Arbeitgeber sind daher gut beraten, im Falle von arbeitsbezogener Arbeitsunfähigkeit resp. beim Vorliegen entsprechender objektiver Indizien (z.B. wenn der Arbeitnehmer bei Freizeitaktivitäten angetroffen wird) anderslautende Arztzeugnisse umgehend zurückzuweisen bzw. nicht zu akzeptieren und eine Untersuchung durch einen Vertrauensarzt zu verlangen sowie allfällige weitere Beweise für eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit zu sichern. Auch sollten Arbeitgeber, wenn sie unter Geltendmachung einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit zu einem Zeitpunkt kündigen, welcher an sich in eine Sperrfrist nach Art. 336c OR fällt, nach Ablauf dieser Frist die Kündigung erneut aussprechen (für den Fall, dass die vorgehende Kündigung von einem Gericht als nichtig erachtet wird).
Festzuhalten ist sodann, dass ein Arbeitgeber im Falle von Mobbing aufgrund seiner gesetzlichen Fürsorgepflicht verpflichtet ist, alle geeigneten und zumutbaren Massnahmen zum Schutz der Persönlichkeit des betroffenen Arbeitnehmers zu ergreifen (wie z.B. Coaching, Mediation etc., wobei in jedem Einzelfall zu prüfen ist, welche Massnahmen ergriffen werden müssen). Im Falle von Mobbing dürfte eine Kündigung des Mobbingopfers in Regel als missbräuchlich (im Sinne von Art. 336 OR) angefochten werden können, es sei denn, der Arbeitgeber kann nachweisen, dass er alle geeigneten zumutbaren Massnahmen zum Schutz der Persönlichkeit des Mobbingopfers getroffen hat und sich die Situation dennoch nicht genügend entschärfen liess. (Im Falle einer missbräuchlichen Kündigung ist der Arbeitgeber bei rechtzeitiger Geldendmachung durch den Arbeitnehmer zur Bezahlung einer Entschädigung in der Höhe von bis zu 6 Monatslöhnen verpflichtet; weitere Ansprüche, insbesondere auf Genugtuung, können im Falle einer Persönlichkeitsverletzung hinzukommen.) Das Bundesgericht hat sich nicht zur Frage geäussert, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen sich ein Arbeitgeber auf die fehlende Anwendbarkeit des zeitlichen Kündigungsschutzes nach Art. 336c OR im Falle einer durch Mobbing verursachten arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit berufen kann. Es muss damit gerechnet werden, dass auch hierfür mindestens verlangt wird, dass der Arbeitgeber alle geeigneten zumutbaren Massnahmen zum Schutz der Persönlichkeit des betroffenen Arbeitnehmers ergriffen hat (wofür er beweispflichtig ist), andernfalls ihm gestattet würde, sich - zu Lasten des Arbeitnehmers - auf eine Tatsache (die arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers) zu berufen, die er (der Arbeitgeber) durch seine eigene Pflichtverletzung selbst verursacht hat.
Wie sich die Praxis betreffend die arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit im Einzelnen entwickeln wird, bleibt mit Spannung abzuwarten.
Zu beachten ist sodann, dass der Arbeitgeber bei fehlender Arbeitsleistung des Arbeitnehmers infolge Krankheit gemäss Art. 324a OR für eine bestimmte Zeit (je nach Dauer des Arbeitsverhältnisses und Jurisdiktion) zur Lohnfortzahlung verpflichtet bleibt. Auch wenn diese gesetzliche Bestimmung die identische Formulierung wie Art. 336c Abs. 1 lit. b OR verwendet («an der Arbeitsleistung verhindert»), werden diese nunmehr unterschiedlich ausgelegt. Für die Frage der Lohnfortzahlungspflicht ist alleine entscheidend, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitstätigkeit infolge Krankheit nicht ausüben kann. Ob seine Krankheit arbeitsplatzbezogen ist oder nicht, ist hierfür nicht entscheidend; der Arbeitgeber bleibt unabhängig davon zur Lohnfortzahlung gemäss Art. 324a OR verpflichtet.
Wir weisen im Übrigen darauf hin, dass die Frage der Auslösung einer Sperrfrist nach Art. 336c Abs. 1 lit. b OR sowie sämtliche weiteren damit im Zusammenhang stehenden Rechtsfragen in jedem Einzelfall genau geprüft werden müssen (unter Einschluss des strategisch besten Vorgehens).
Über die Autorin:
Dr. Regula Rhiner, LL.M., ist Senior Associate bei Littler Switzerland.
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